Interview über Schönheitsnormen: "Die meisten Menschen sind viel attraktiver, als sie denken."
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von Julia Wagner
4 Min.Schönheitsideale sind heute unrealistischer denn je, was uns immer unzufriedener mit unserem Aussehen werden lässt. Allerdings zu Unrecht. Was das mit unserer Bildschirmzeit zu tun hat und warum auf Body Positivity der Botox-Boom folgt, verrät Autorin Rabea Weihser.
BRIGITTE: Wir sprechen über Teams, ich sehe mich mal wieder selbst auf dem Bildschirm und habe einen Filter eingestellt, um besser auszusehen. Seit Corona und Homeoffice ist das Alltag. Wie wirkt sich das auf uns aus?
Rabea Weihser: Unser Berufsleben hat sich auf den Bildschirm verlagert, wo wir bereits große Teile unseres Privatlebens verbringen. Das verändert unsere Selbstwahrnehmung. Der Mensch ist psychisch nicht dafür gemacht, sich die ganze Zeit selbst zu beobachten und sich dauerhaft mit dem eigenen Aussehen auseinanderzusetzen. Man merkt das an einer gestiegenen Nachfrage nach ästhetischen Eingriffen und Schönheitsoperationen. Manche Leute überprüfen während einer Videokonferenz die ganze Zeit, ob sie okay aussehen. Chirurgenverbände vermuten zudem, dass die Leute mehr an sich machen lassen, weil sie im Homeoffice ihre Wunden ungestört heilen lassen können.
Sie beschreiben im Buch beunruhigende mentale Auswirkungen der Screentime ...
Ja, einige Studien stellen direkte Zusammenhänge her zwischen der Zeit, die Menschen auf Social Media verbringen, und ihrem Wohlbefinden und Selbstwertgefühl. Insbesondere junge Menschen, die noch in der kognitiven Entwicklung stecken, sind da gefährdet. Unter Jugendlichen häufen sich Wahrnehmungsstörungen, Körperdysmorphien und psychische Störungen. Es beginnt mit einer Verunsicherung. Warum sehe ich nicht so aus wie mein gefiltertes Selfie? Oder wie die Person, die ich den ganzen Tag auf Instagram oder TikTok verfolge? Das unendliche Betrachten verfremdeter Gesichter ist ungesund.
Vergleichen wir uns mit einem unerreichbaren Schönheitsideal?
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Zur sozialen Orientierung vergleichen sich Menschen erstmal mit dem Durchschnitt einer Population: Man geht einfach auf die Straße und verortet sich selbst innerhalb einer optischen Normalverteilung. Die meisten Menschen sind tatsächlich viel näher an einem attraktiven und als angenehm empfundenen Durchschnitt, als sie denken. Dieses Empfinden verschiebt sich, wenn sie den ganzen Tag auf Social Media verbringen, wo sich mehrheitlich Menschen ausstellen, die dank Make-up, Filtern und OPs weit von diesem gesellschaftlichen Durchschnitt entfernt sind. Wenn das zum Schönheitsideal wird, können wir alle im Vergleich nur verlieren.
Sie schreiben auch über den Zusammenhang von negativer Selbstwahrnehmung und Hasskommentaren.
Wir wissen ja intuitiv, dass Menschen, die ein schlechtes Selbstwertgefühl haben, andere eher herabwürdigen, um sich über sie erheben zu können. Es ist also eine heftige Negativspirale, die da in Gang gesetzt wird durch diese fehlgeleiteten optischen Vergleiche. Und dann kommt noch dazu, dass Menschen sehr viel stärker auf schlechte Nachrichten reagieren als auf positive. Das Gefällige wird kognitiv leicht verarbeitet, aber über Störfaktoren stolpert das Gehirn. Deshalb funktionieren negative Schlagzeilen so gut. Und die ganzen Herabwürdigungen und Beleidigungen in den Kommentaren prägen sich bei uns viel stärker ein als ein Lob.
Lassen Sie uns über das Thema Normschönheit sprechen. Sie schreiben in Ihrem Buch, der Begriff normschön sei inhaltsleer …
Gängige Attraktivitätsstudien haben Studienteilnehmende meist befragt, ob sie das, was sie sehen, schön oder hässlich finden. Diese Binarität entspricht aber möglicherweise gar nicht unserer Wahrnehmung. Neuere Forschung geht davon aus, dass es wesentlicher ist, nicht hässlich zu sein als schön zu sein. Der gefällige Durchschnitt reicht völlig aus, um nicht anzuecken und als angenehm wahrgenommen zu werden.
Haben wir also den Blick fürs Mittelmaß verloren?
Ja, aufgrund einer sehr prägnanten Medienlandschaft, in der wir uns bewegen, haben wir das Gefühl, schöner sein zu müssen als der Durchschnitt und denken, das sei die Norm. Darin liegt schon eine Wahrnehmungsverschiebung.
Auf Social Media dreht sich der Diskurs oft um "normschöne" Menschen, die das "Pretty Privilege" genießen, also Vorteile daraus ziehen, dass sie gut aussehen…
"Pretty Privilege" wird meist als Totschlagargument genutzt, wenn attraktive Menschen von Misserfolgen oder Unsicherheiten berichten. Die sollten sich nicht so anstellen, sie seien schließlich von der Natur beschenkt. Aber es ist schon sehr bösartig, vom glatten Äußeren einer Person auf ein glattes Inneres, auf die Abwesenheit von unerfüllten Sehnsüchten oder mentalen Problemen zu schließen. Auch hübsche Leute haben Schwierigkeiten. Ja, der "Halo-Effekt" und "Pretty Privilege" sind wissenschaftlich belegt. Aber wir alle können die Vorteile besseren Aussehens nutzen, faktisch oder autosuggestiv. Es gibt sogar eine wirkungsvolle performative Schönheit: Wenn wir uns nur verhalten, als seien wir attraktiv, werden wir auch als attraktiver wahrgenommen. Natürlich hat der Effekt gewisse Grenzen.
Auf den Laufstegen sieht man wieder Models, die dünn sind wie eh und je. Ist die Body Positivity der letzten Jahre vorbei?
Es ging wohl in der Modeindustrie nur kurz darum, eine Körperdiversität auszustellen, ohne sich ihr wirklich verpflichtet zu fühlen. Das war offenbar bloß ein Trend, der von Social Media ausging, nicht Ausdruck einer humanistischen Überzeugung. Die alte Sehnsucht nach schlanken, straffen, gesunden Körpern kehrt allerdings immer wieder zurück. Absurd in einem biologischen Sinn ist natürlich die Glorifizierung ausgemergelter, halb verhungerter Körper. Aber auch die wurden im 19. Jahrhundert verehrt, in den 1990ern und jetzt. Ich finde es wichtig, Modenschauen und insbesondere Haute Couture als Zauberwelt und Theater zu verstehen. Nicht als Blaupause. Diese Körper haben nichts mit unseren Körpern zu tun. Diese Kleidung ist für die meisten Menschen unerschwinglich. Das Problem ist aber, dass das Publikum direkt Körperideale daraus ableitet. Wenn wir ins Theater gehen, wissen wir, dass alles inszeniert ist. Wenn wir Fashionfotos in den Netzwerken oder Videos vom Laufsteg anschauen, vergessen wir diese Medienkompetenz.
Auf Body Positivity folgte der Botox-Boom. Gibt es da einen Zusammenhang?
Die Kosmetikkritikerin Jessica DeFino hat da eine interessante Linie gezogen. Die Generationen X und Y sind mit einem Diätwahn aufgewachsen, haben sich daraus befreit und – wenn’s gut lief – eine Body Positivity entwickelt. Die Gen Z und Gen A sind mit dieser Body Positivity aufgewachsen, entwickeln aber eine frühe Altersangst und reagieren darauf mit Botox-Wahn. Wir haben gerade die eine Fessel gelöst und legen uns schon wieder die nächste an. Frauen können sich offenbar nicht davon befreien, sich defizitär zu fühlen und immer weiter an sich herumzudoktern.
Gerade werden weibliche Stars 50+ gefeiert, wie Demi Moore, die aussehen wie 30+. Ältere Frauen dürfen also nur dann sichtbar sein, wenn sie ihr Alter verleugnen?
Wir erleben gerade, dass Alter neu definiert wird. Auch Personen, die naturbelassen altern, sehen ja nicht mehr so alt aus wie 55-Jährige vor 20 Jahren. Unsere Lebensumstände haben sich verbessert, wir wissen, wie wir länger jung und aktiv bleiben, ohne dass das Leben zu deutliche Spuren auf unserem Körper oder im Gesicht hinterlässt. Frauen ab 45 sind heute tatsächlich in der Gesellschaft und in den Medien sichtbarer. Einige von ihnen wollen ganz bewusst nicht altern, und andere lassen diesen natürlichen Prozess zu. Beides existiert gleichzeitig und ist okay. Freiwillig wird die Unterhaltungsindustrie nie vom Jugendwahn lassen. Wir sollten es uns aber nicht nehmen lassen, sie mit einer neuen Altersfreude zu unterwandern.
brigitte